Der Antihumanist

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16.06.2009
Der Antihumanist
Zehn Jahre nach seinem Tod schließt ein Band mit "vorletzten Gesprächen" die Lücke in einer Trilogie mit Niklas Luhmann im O-Ton. Ein Versuch, den Soziologen zu verstehen

VON KAI SCHLIETER
"Was tun, Herr Luhmann?" Eine recht umfassende Frage, die aber kaum dem Universalgelehrten huldigt, sondern eher von trockenem Humor zeugt. Nicht nur Niklas-Luhmann-Kenner wissen vom Katechismus der Systemtheorie: Alles eine Frage der Perspektive. Antworten, gar Handlungsanweisungen von Luhmann zu erhoffen, ist ein Witz. Und die will der nun vorliegende Interviewband wohl kaum liefern. Er ist untertitelt mit "Vorletzte Gespräche mit Niklas Luhmann".
Nach "Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann" aus dem Jahr 2004 und "Archimedes und wir" von 1987 ist dies der dritte Band mit Luhmann im O-Ton. In der Summe geht es allen drei Titeln darum, die Person hinter der erratischen Theorie sichtbar zu machen. Am besten gelingt dies in "Archimedes und wir". Doch wer war dieser Archimedes?
Das YouTube-Filmchen zu "Luhmann erklärt den Zettelkasten" haben schon 70.000 User gesehen. Den "Heiligen Gral von Bielefeld", nennt der Spiegel den berühmten Zettelkasten des Soziologen. "Ein Alter Ego, mit dem man laufend kommunizieren kann", befindet sein Schöpfer ungekannt liebevoll 1992. Autor ist dieser Kasten mit 24 Laden, wie Luhmann nicht ausschließlich ironisch feststellt. 70.000 Klicks für den Clip: Luhmann ist Pop.
Das war mal anders. In den 70er-Jahren, als es noch Gut und Böse gibt, als die Blockkonfrontation noch das Denken polt, auch in der Wissenschaft. Hier sind die Fans eine Minderheit. Denn Luhmann, der Theoretiker mit dem über Jahre indifferenten Sakko, widersetzt sich der in der Soziologie vorherrschenden Lehre, die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisieren zu müssen. Tatsächlich wüsste er schlicht nicht, was das sein soll: das Richtige, für das sie hier kämpfen. Die Anti-Luhmann-Transparente nimmt er stoisch hin.
Im tonangebenden Frankfurt ruft Luhmanns vermeintlicher Relativismus und seine Weigerung zum Bekenntnis bei den linken Soziologen Abwehrreflexe hervor. Doch zu ignorieren ist er nicht: 1966 wird der zunächst als Verwaltungsbeamter tätige Luhmann nach einem Aufenthalt in Harvard bei Talcott Parsons gleichzeitig promoviert und habilitiert. Von der Frankfurter Mensa ausgehend entspinnt sich ein Disput mit dem Adorno-Schüler Jürgen Habermas. Einer, der sich nicht anschließt, die bestehenden Verhältnisse zu kritisieren, ist nicht anschlussfähig. Luhmann will den Status quo erhalten, so Habermas' Urteil. Politisch äußert sich Luhmann nicht, Angriffsfläche aber bietet das Vokabular seiner Sprache. Die Systemtheorie sei eine "Sozialtechnologie", so die Anklage. Für Luhmann markiert die Sicherheit, mit der sich die Frankfurter auf der richtigen Seite wähnen, einen überholten "Moralkonservatismus". Eine Ontologie, der seine Theorie längst entglitten ist. Das war 1971. Seit dem gelten Luhmann und Habermas als Antipoden eines intellektuellen Planeten, auf dessen Kontinent der Bielefelder Robinson Crusoe ist.
Die Signatur Luhmanns ist jetzt die eines Reaktionärs. Jahre später antwortet er auf die stetig wiederkehrende Gesinnungsfrage: "Wenn man wirklich konservativ ist, dann müsste man heute enorm viel ändern, um angesichts der vielfältigen Veränderungen etwas zu bewahren. Wie kann man in einer solchen Situation sinnvollerweise von ,konservativ' reden?"
Beschreiben, nicht werten
Der Vorwurf des Antihumanisten, mit dem er ebenso oft konfrontiert wird, wurzelt in Luhmanns striktem Verzicht auf das Subjekt. Im aktuellen Interviewband antwortet er auf die Frage, ob es etwas gebe, dass ihn gänzlich kalt lasse: "Ich lehne alle Einladungen ab, die mich veranlassen wollen, über den Menschen zu sprechen. Also der Mensch interessiert mich nicht, wenn ich das so sagen darf." Luhmann will den Menschen nicht auf Formeln, Reiz-Reaktions-Schemata, auf Trivialmaschinen reduzieren. Er spart ihn lieber aus.
Diese Leerstelle in der Theorie kontrastierte Luhmann in der Praxis geradezu kafkaesk. Denn die Ausarbeitung der Systemtheorie ist unauflösbar mit ihm selbst verbunden. Beim Antritt seiner Professur in Bielefeld umreißt er sein Vorhaben: "Es wird eine allgemeine Theorie sozialer Systeme ausgearbeitet. Die Publikation wird in Aufsätzen und Monografien erfolgen." Er veranschlagt dafür 30 Jahre, Kosten "keine". Luhmann beschäftigt sich mit nichts anderem, schreibt 400 Aufsätze und etwa 60 Bücher. Er verschlingt Bibliotheken, um sie in die Matrix seiner Theorie einzuarbeiten. An einem gewöhnlichen Tag liest er von 8.30 Uhr bis 23 Uhr, unterbrochen von zwei Mal Gassigehen und dem Mittagsschlaf.
Und alles, was er liest, verzettelt er. Er schreibt auf Kalenderblätter, Kinderzeichnungen und Kontoauszüge. Damit beginnt er schon als 28-Jähriger Referendar in Lüneburg. Auf dem ersten Zettel notiert er: "Es muss versucht werden, Methoden und Begriffe so klar wie möglich zu explizieren, damit ihre Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit deutlich wird."
Im Luhmann-Kosmos erfolgt der Zugang zur Welt über Unterscheidungen. Will ich etwas erkennen oder bezeichnen, muss ich eine Unterscheidung wählen. Die Wahl dieser Unterscheidung bedingt, was ich beobachten kann. Und diese Unterscheidung lässt notwendig anderes außer Acht. Die Welt existiert nur aus einer gewählten Perspektive. Der Versuch, dieses perspektivische Beobachten mitzudenken, erfordert einen Beobachter, der andere beim Beobachten beobachtet. In der Systemtheorie existiert keine aus sich selbst heraus vorrangige Position, von der aus Stellung bezogen werden könnte. Soziologie ist für Luhmann Aufklärung, wenn sie unwahrscheinliche Beobachterperspektiven einnimmt. Die Funktion sieht er im Beschreiben, nicht im Werten. Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht schrieb einmal, Luhmann "akzeptierte nur ein ethisches Postulat: das Postulat, den anderen die Zumutung von Ethiken zu ersparen".
Luhmann hat die Komplexität der Gesellschaft in seine Theorie geholt. In einer Form, die durch Paradoxien und Tautologie Verweise erzeugt, die mitunter zum Ursprung zurückführen und eine Taubheit hinterlassen, die zumeist irritiert, aber anregt. Seine Erkenntnistheorie ernst zu nehmen kann bedeuten, sich in Reflexionsschleifen zu verlieren, sie ist ein Stoff, der Handlung lähmt. Nichts für Tatmenschen oder Wahrheitssucher.
In einer vernetzten und polyzentrischen Welt, in der verpackte und gesplittete Immobilienkredite Volkswirtschaften weltweit in den Abgrund ziehen, in der alles gleichzeitig geschieht und jede Entscheidung, die in ihren Auswirkungen kaum absehbar ist, mehr denn je individuell verantwortet werden muss, da ist vor allem eines wieder gesucht: Orientierung, Ordnung, die Reduktion von Komplexität. Damit ist Luhmann aktuell und praktisch nutzlos wie nie. Gefragt ist heute wieder Religion. Denn sie setzt eine unhinterfragbare und universelle Ordnung. Chaos ist nur ein anderer Name für das Böse.
Bei Luhmann gilt bezogen auf die Umsetzbarkeit seiner Reflexionen, so liest man im aktuellen Gesprächs-Band, "dass man mit jeder Kenntnis noch mehr Unkenntnis produziert, mit jedem Wissen noch mehr Unwissen".
Wolfgang Hagen (Hg.): "Was tun, Herr Luhmann? Vorletzte Gespräche mit Niklas Luhmann". Kadmos Verlag 2009, 160 Seiten, 14,90 €

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最終更新:2009年06月16日 23:35
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