ERSTER AKT
ERSTE SZENE
Geräumiges, aber dürftig eingerichtetes Atelier. Hinten Entréetür. in der Mitte ein Podium. Zwischen Podium und Entréetür eine spanische Wand. Vorne, auf der einen Seite eine Staffelei mit dem noch nicht ganz ausgeführten Bild Lulus. Auf de anderen Seite eine Ottomane. Darüber ein Tigerfell. Im Hintergrund eine Trittleiter und eine Plastik.
LULU
im Pierrotkostüm, einen hohen Schäferstab in der Hand, auf dem Podium stehend
DER MALER
vor der Staffelei, malend
DR. SCHÖN
im Mantel, den Hut in der Hand, am Fussende der Ottomane sitzend
ALWA
noch hinter der spanischen Wand
Darf ich eintreten?
DR. SCHÖN
Mein Sohn!
LULU
Das ist ja Herr Alwa!
DR. SCHÖN
Komm nur ungeniert herein!
ALWA
vortretend und seinen Vater und den Maler kurz begrüssend, stellt sich neben diesen
Seh' ich recht? Frau Medizinalrat!
Lulu und das Bild miteinander vergleichend; sehr warm:
Wenn ich Sie doch nur für meine Hauptrolle engagieren könnte!
LULU
Ich würde für Ihr Stück wohl kaum gut genug tanzen...
DR. SCHÖN
zu Alwa, in der merklichen Absicht das Gespräch zu unterbrechen
Was führt Dich denn hierher?
ALWA
Ich wollte Dich zu meiner Generalprobe abholen.
DR. SCHÖN
erhebt sich
LULU
zu Alwa
Reservieren Sie uns eine Loge für Samstag, Herr Alwa!
ALWA
Wie konnten gnädige Frau daran zweifeln. - Aber wo ist der Herr Gemahl? Ich seh' Sie heute zum erstenmal ohne ihn.
DR. SCHÖN
Er lässt Sie doch sonst nie allein.
LULU
Er sollte schon längst da sein...
DR. SCHÖN
Dann grüssen Sie ihn von mir!
LULU
zögernd
Und ich.., lasse mich..., unbekannterweise,... Ihrer Braut empfehlen!
DR. SCHÖN
in der merklichen Absicht, darauf nicht einzugehen, zum Maler
Sie müssen hier ein wenig mehr modellieren. Das Haar ist schlecht.
Sie sind nicht genügend bei der Sache...
ALWA
zu Lulu
Mich ruft leider die Pflicht, gnädige Frau.
zu Schön
Komm jetzt!
DR. SCHÖN
Wir nehmen meinen Wagen, der unten steht.
Kurze allgemeine Verabschiedung.
ALWA und DR. SCHÖN
ab
DER MALER
mit Lulu alleingeblieben, hat zu malen aufgehört, erhebt sich plötzlich und geht - Pinsel und Palette in der Hand - nach hinten zum Podium.
Gnädige Frau... Frau Medizinalrat...
LULU
verwundert
Wer hätte das gedacht!
DER MALER
Ja, ich bin wohl recht lächerlich?
LULU
Mein Mann wird gleich hier sein.
DER MALER
Nun, ich kann nicht mehr tun als malen.
LULU
aufhorchend
Mir scheint... da ist er!
DER MALER
Wie …
LULU
Hören Sie nichts?
DER MALER
Da kommt jemand!
LULU
Ich wusste es ja!
DER MALER
Es ist der Hausmeister, er kehrt das Stiegenhaus.
LULU
Gott sei Dank.
DER MALER
geht zu seiner Staffelei zurück. Wieder vor dem Bild, in der Absicht weiter zu malen - wirft plötzlich Palette und Pinsel weg
Ich kann nicht...
LULU
stampft leicht mit dem Fuss auf
Malen Sie doch! -
atmet tief ein
DER MALER
von der Staffelei aus
Lassen Sie das bitte!
LULU
Ist das eine Bösewicht!
DER MALER
zur Tür schauend
Ach, warum kommt er nicht!
LULU
Ja, mir wäre es auch lieber,
er wäre endlich da.
DER MALER
im Begriff wieder nach den Malgeräten zu greifen, wendet er sich plötzlich - ganz in ihrem Bann - Lulu zu und nähert sich ihr
Wenn Sie links das Höschen ein wenig höher...
LULU
Hier?
DER MALER
bei ihr
Erlauben Sie?
LULU
Was wollen Sie?
DER MALER
Ich zeig' es Ihnen.
LULU
Es geht nicht!
DER MALER
Sie sind nervös...
LULU
Lassen Sie mich doch in Ruh!
Wirft ihm den Schäferstab ins Gesicht und eilt zur Eingangstür.
Sie bekommen mich noch lange nicht.
DER MALER
ihr nach
Sie verstehen scheinbar keinen Scherz.
LULU
Ich verstehe alles.
DER MALER
Bitte bleiben Sie doch!
LULU
Lassen Sie mich frei!
flüchtet hinter die Ottomane
DER MALER
Gnädige Frau...
LULU
Mit Gewalt erreichen Sie gar nichts bei mir.
DER MALER
Lieber wär's auch mir, es ging ohne Gewalt.
LULU
hinter der Ottomane
Gehen Sie an Ihre Arbeit.
DER MALER
auf der anderen Seite der Ottomane
Sobald ich Sie bestraft hab'.
LULU
Dazu müssen Sie mich aber erst haben.
DER MALER
Ja, Sie glauben doch nicht, mir zu entkommen.
LULU
Hände weg!
DER MALER
sich quer über die Ottomane werfend
Hab' ich Dich!
LULU
schlägt ihm das Tigerfell über den Kopf
Gute Nacht...
DER MALER
sich aus der Decke wickelnd
Dieser Balg ...
LULU
springt über das Podium und klettert auf die Trittleiter. Ekstatisch
Ich sehe über alle Städte der Erde weg!
DER MALER
schüttelt an der Leiter, zu ihr emporblickend
Ich sehe mehr als alle Schönheit des Erdenrunds!
LULU
Ich greife in den Himmel und steck' mir die Stern' ins Haar!
DER MALER
erfasst ein Bein Lulus
Ich dringe bis zum Orkus; ich sprenge das Höllentor!
LULU
Gott schütze Polen!
bringt die Leiter zu Fall
DER MALER
Hol' mich der Teufel!
LULU
Durch die fallende Leiter wird eine Plastik getroffen, die zerbrochen zu Boden fällt.
Sie bekommen mich nicht!
DER MALER
der den Schaden gewahr wird, aufschreiend
Barmherziger Gott!
LULU
springt auf das Podium
Bleiben Sie mir vom Leib!
DER MALER
Ich bin ruiniert!
LULU
will mit einem Sprung zur Ottomane gelangen
Ein Graben, fallen Sie nicht hinein...
DER MALER
ihr wieder nach
Jetzt kenne ich kein Erbarmen mehr...
LULU
fällt aber vor der Ottomane vornüber auf den Boden. Aufstöhnend
Lassen Sie mich jetzt in Ruhe
DER MALER
stolpert, rafft sich wieder auf
Nun ist nichts mehr zu verlieren...
LULU
Mir wird schwindlich...
DER MALER
eilt, wie er Lulu zusammensinken sieht, zur Tür, die er versperrt
Nichts zu verlieren...
LULU
...o Gott, ... o Gott,
richtet sich am Rand der Ottomane langsam auf, auf der sie schliesslich wie gebrochen zusammensinkt
... o Gott!
DER MALER
nach vorne kommend
Kein Erbarmen! ...
Setzt sich an die Seite Lulus, deren Hände er mit Küssen bedeckt.
Wie ist Dir!
LULU
mit geschlossenen Augen
Mein Gatte wird gleich kommen...
DER MALER
Ich liebe Dich!
LULU
ebenso
"Ich liebte einmal einen Studenten mit hundertundfünfundsiebzig Schmissen... "
DER MALER
sie anrufend
Nelly ...
Da sie nicht hört
Ich liebe Dich, Nelly!
LULU
wie erwachend
Ich heisse nicht Nelly. Ich heisse Lulu.
DER MALER
Ich werde Dich Eva nennen. - Gib mir einen Kuss, Eva.
LULU
Sie riechen nach Tabak.
DER MALER
Warum sagst Du nicht "Du"?
LULU
Es wäre unbehaglich.
DER MALER
Du verstellst Dich.
LULU
Ich mich verstellen? Das hatte ich niemals nötig.
DER MALER
Ich kenn' die Welt nicht mehr...
LULU
Bringen Sie mich nicht um!
DER MALER
Du hast noch nie geliebt...
LULU
Sie haben noch nie geliebt...
DER MEDIZINALRAT
von aussen
Machen Sie auf!
LULU
springt auf
Verstecken Sie mich! O Gott, verstecken Sie mich!
DER MEDIZINALRAT
gegen die Tür polternd
Machen Sie auf!
DER MALER
will zur Tür
LULU
hält ihn zurück
Er schlägt mich tot...
DER MEDIZINALRAT
ebenso
Machen Sie auf!
LULU
Er schlägt mich tot!
vor dem Maler niedergesunken, umfasst seine Knie
DER MALER
Stehn Sie auf...
LULU
Er schlägt mich tot...
Die Tür fällt krachend ins Atelier.
DER MEDIZINALRAT
mit blutunterlaufenen Augen, stürzt mit erhobenem Stock auf den Maler und Lulu zu
Ihr Hunde! Ihr...
keucht, ringt nach Atem und bricht, vom Schlag getroffen, zusammen.
DER MALER
wankt in den Knien
LULU
hat sich zur Tür geflüchtet
Pause
DER MALER
tritt an den Medizinalrat heran
Herr Me... , Herr Medizi... nalrat.
LULU
in der Tür
Bringen Sie doch bitte erst das Atelier in Ordnung.
DER MALER
beugt sich nieder
Herr Medizinalrat.
rüttelt Ihn leicht; zu Lulu
Helfen Sie mir, ihn aufzuheben.
LULU
bebt scheu zurück
Nein, nein, -
DER MALER
versucht ihn umzukehren
Herr Medizinalrat.
LULU
Er hört nicht.
DER MALER
Helfen Sie mir doch!
LULU
Er ist zu schwer.
DER MALER
sich emporrichtend
Man muss zum Arzt schicken.
Geht mit einigem Zögern zur Tür hinaus
LULU
allein, immer noch an der Tür
Auf einmal springt er auf...
ihn anrufend
Pussi! - Er lässt sich nichts merken. -
Kommt in weitem Bogen nach vorn
Er sieht mir auf die Füsse und beobachtet jeden Schritt, den ich tu'. Er hat mich überall im Auge.
Sie berührt ihn mit der Fusspitze
Pussi! zurückweichend
Es ist ihm ernst. - Der Tanz ist aus. - - Er lässt mich sitzen. Was fang' ich an?
DER MALER
rasch eintretend
Noch nicht wieder zur Besinnung gekommen?
LULU
vorn
Was fang ich an...
DER MALER
Der Arzt muss im Augenblick hier sein...
LULU
Arznei hilft ihm nicht.
DER MALER
über den Medizinalrat gebeugt
Herr Medizinalrat …
LULU
Ich glaube fast, es ist ihm ernst.
DER MALER
Reden Sie doch anständig!
LULU
Jetzt bin ich reich...
DER MALER
Es ist grauenerregend.
zu sich
Was kann sie dafür!
LULU
Was fang ich an …
DER MALER
ebenso
Vollkommen verwildert!
Geht auf Lulu zu, ergreift ihre Hand
Sieh mir ins Auge!
LULU
ängstlich
Was wollen Sie...
DER MALER
führt sie zur Ottomane, nötigt sie, neben ihm Platz zu nehmen
Eine Frage: Kannst Du die Wahrheit sagen?
LULU
Ich weiss es nicht.
DER MALER
Glaubst Du an einen Schöpfer?
LULU
Ich weiss es nicht.
DER MALER
Kannst Du bei etwas schwören?
LULU
Ich weiss es nicht.
DER MALER
Woran glaubst Du denn?
LULU
Ich weiss es nicht. - Lassen Sie mich! Sie sind verrückt!
DER MALER
Hast Du denn keine Seele?
LULU
Ich weiss es nicht.
DER MALER
Hast Du schon einmal geliebt?
LULU
Ich weiss es nicht.
DER MALER
sich erhebend, zu sich
Sie weiss es nicht.
LULU
ohne sich zu rühren
Ich weiss es nicht.
DER MALER
mit einem Blick auf den Medizinalrat
Er weiss es...
LULU
wie erwachend
Was wollen Sie denn eigentlich wissen?
DER MALER
empört
Geh, zieh Dich an!
LULU
fast erstaunt, in den Nebenraum abgehend
DER MALER
allein
Ich möchte tauschen mit Dir, Du Toter! Ich geb' sie Dir zurück. Ich gebe Dir meine Jugend dazu. Ich bin dem Glück nicht gewachsen; ich habe eine höllische Angst davor. Wach auf! Ich habe sie nicht angerührt.
Wach auf! Wach auf!
Kniet nieder und drückt ihm die Augen zu.
Hier flehe ich zum Himmel, er möge mir die Kraft geben und die seelische Freiheit, nur ein klein wenig glücklich zu sein. Um ihretwillen, einzig um ihretwillen.
LULU
tritt aus dem Nebenraum, vollständig angekleidet, den Hut auf, die rechte Hand unter der linken Achsel; zum Maler, den linken Arm hebend
Wollen Sie mir zuhaken. Mir zittert die Hand...
DER MALER
tut es, während sich der Vorhang langsam schliesst
Verwandlungsmusik