ZWEITER AKT
ERSTE SZENE
Prachtvoller Saal in deutscher Renaissance mit schwerem Plafond in geschnitztem Eichenholz. - Die Wände bis zur halben Höhe in Holzskulpturen. Darüber an beiden Seiten verblasste Gobelins. Nach hinten oben ist der Saal durch eine Galerie abgeschlossen, die durch einen Vorhang verhängt ist, der aber zu Beginn der Szene halb offen steht. Von dieser Galerie führt links eine monumentale Treppe bis zur halben Tiefe der Bühne herab. In der Mitte unter der Galerie die Eingangstür mit gewundenen Säulen und Frontispiz. An der rechten Seitenwand ein geräumiger hoher Kamin. Weiter vorn ein Balkonfenster mit geschlossenen schweren Gardinen. An der linken Seite vor dem Treppenfusse eine geschlossene Portière in Genueser Samt. Vor dem Kamin steht als Schirm eine chinesische Klappwand. Vor dem Fusspfeiler des freien Treppengeländers, auf einer dekorativen Staffelei, Lulus Bild als Pierrot in antiquisiertem Goldrahmen. Links vorne eine breite Ottomane, rechts davor ein Fauteuil. In der Mitte des Saals ein vierkantiger Tisch mit schwerer Decke, um den drei hochlehnige Polstersessel stehen. Auf dem Tisch steht ein weisses Bukett.
LULU
in einem Morgenkleid, im Fauteuil
DR. SCHÖN
links vorne stehend
GRÄFIN GESCHWITZ
auf der Ottomane, in einem sehr männlich anmutenden Kostüm - hoher Stehkragen etc. - Schleier vor dem Gesicht, die Hände krampfhaft im Muff; zu Lulu
Sie glauben nicht, wie ich mich darauf freue, Sie auf unserm Künstlerinnenball zu sehn.
DR. SCHÖN
Sollte denn für unsereinen gar keine Möglichkeit besteh'n, sich einzuschmuggeln?
GRÄFIN GESCHWITZ
Es wäre Hochverrat, wenn jemand von uns einer solchen Intrigue Vorschub leistete.
DR. SCHÖN
geht hinter der Ottomane durch zum Mitteltisch
Die wundervollen Blumen!
LULU
Die hat mir Fräulein von Geschwitz gebracht.
GRÄFIN GESCHWITZ
O bitte.
Verlegenheitspause
Sie werden sich doch jedenfalls als Herr kostümieren?
LULU
Glauben Sie denn, dass mich das kleidet?
GRÄFIN GESCHWITZ
auf das Bild Lulus deutend
Hier sind Sie wie ein Märchen.
LULU
Mein Mann mag es nicht.
GRÄFIN GESCHWITZ
Ist es von einem Hiesigen?
LULU
Sie werden ihn kaum gekannt haben.
GRÄFIN GESCHWITZ
Er lebt nicht mehr?
DR SCHÖN
dumpf
Er hatte genug.
LULU
Du bist verstimmt.
GRÄFIN GESCHWITZ
die die unbehagliche Stimmung bemerkt, erhebt sich
Ich muss geh'n, Frau Doktor.
DR. SCHÖN
beherrscht sich
GRÄFIN GESCHWITZ
Ich habe noch so viel für unsern Ball zu richten.
Schön aus der Entfernung grüssend
Herr Doktor.
von Lulu geleitet, ab
DR. SCHÖN
allein, sich umsehend
Das mein Lebensabend. Die Pest im Haus. Dreissig Jahre Arbeit - und das mein Familienkreis, der Kreis der Meinen...
schrickt zusammen, sieht sich um
Gott weiss, wer mich jetzt wieder belauscht!
Zieht den Revolver
Man ist ja seines Lebens nicht sicher.
Er geht, den gespannten Revolver in der Rechten haltend, nach rechts und spricht an die geschlossene Fenstergardine hin
Das mein Familienkreis!
Der Kerl hat Mut!
Ergreift den Vorhang, reisst ihn zur Seite; da er niemand findet
Der Irrsinn hat sich meiner Vernunft schon bemächtigt. - Der Schmutz... der Schmutz...
Er steckt, da er Lulu kommen hört, den Revolver ein.
LULU
eintretend und mit Schön nach vorne kommend
Könntest Du Dich für heute Nachmittag nicht freimachen?
DR. SCHÖN
Was wollte diese Gräfin eigentlich?
LULU
Ich weiss nicht... Sie will mich malen. - Ich würde so gerne mit Dir ausfahren.
DR. SCHÖN
Du weisst, dass ich heute auf die Börse muss
LULU
Du bist schlecht gelaunt.
an seinem Hals
Seit Wochen und Monaten hab' ich nichts mehr von Dir.
DR. SCHÖN
Dein Frohsinn sollte meine alten Tage erheitern.
Streichelt ihr Haar
LULU
Du hast mich ja gar nicht geheiratet.
DR. SCHÖN
Wen hätte ich denn sonst geheiratet?
LULU
Ich, - ich habe Dich geheiratet.
DR. SCHÖN
Was ändert denn das daran?
LULU
Ich fürchte: Vieles - nur Gottlob eines nicht!
DR. SCHÖN
Und das wäre?
LULU
Deine Liebe zu mir.
DR. SCHÖN
zuckt mit dem Gesicht, winkt ihr, voranzugehen und drängt sie sachte nach links in ihr Schlafzimmer. Beide ab
Leere Bühne
GRÄFIN GESCHWITZ
öffnet vorsichtig die Mitteltür, wagt sich nach vorn und lauscht; schrickt zusammen, lauscht wieder und versteckt sich schliesslich hinter dem Kaminschirm.
Wieder leere Bühne
SCHIGOLCH
tritt über die Treppe aus der offenen Gardine, sich am Geländer haltend; immer kurzatmig
Gott sei Dank, dass wir endlich zuhause sind.
Fast ausgleitend
Diese Parketten! Nichts als Klippen, als Fallstricke!
Bleibt stehen, atemholend
RODRIGO
kommt, den Studenten am Arm tragend, polternd die Treppe herunter
Er ist noch zu klein für die grosse Welt und kann auch nicht so weit zu Fuss gehen!
DER GYMNASIAST (Hosenrolle)
indem er versucht, sich aus den Armen des Athleten zu befreien
Wenn es auf nichts als auf Leben und Tod ginge, dann solltet Ihr mich kennen lernen.
RODRIGO
Das Brüderchen wiegt samt seinem Liebeskummer nicht mehr als vierzig Kilo.
DER GYMNASIAST
mit den Beinen strampelnd
Ich werd' aus der Schule gejagt!
RODRIGO
Du bist noch auf gar keiner richtigen Schule gewesen.
Setzt den Studenten nieder
SCHIGOLCH
der allmählich - immer wieder tief atemholend - über die Treppe heruntergekommen ist
Hier hat sich schon mancher die ersten Sporen verdient. Nur ja keine Schüchternheit!
Holt im folgenden zwei Likörflaschen aus einem Kästchen und stellt sie mit Gläsern auf den Tisch.
DER GYMNASIAST
Wenn ich nur wüsste, was ich ihr sagen soll!
RODRIGO
grob lachend
Das weiss sie schon selber am besten.
SCHIGOLCH
sich mit beiden Händen auf die Tischplatte stützend
Rauchen die Herrn?
DER GYMNASIAST
sein Zigarettenetui öffnend
Hier sind Habanna!
RODRIGO
sich bedienend
Vom Papa Polizeidirektor!
SCHIGOLCH
sich mühsam setzend
Ich habe alles im Hause; braucht nur zu befehlen!
DER GYMNASIAST
Ich habe gestern ein Gedicht gemacht...
RODRIGO
Was hat er ihr gemacht?
DER GYMNASIAST
Ein Gedicht!
RODRIGO
Ein Gedicht?
SCHIGOLCH
Zwei Taler hat er mir versprochen, wenn ich sie zusammenbringe - und allein lasse!
DER GYMNASIAST
Wer wohnt denn eigentlich hier?
SCHIGOLCH
Hier wohnen wir.
RODRIGO
Jour fix, jeden Börsentag!
DER GYMNASIAST
Soll ich es ihr vielleicht zuerst vorlesen?
SCHIGOLCH
zu Rodrigo
Was meint er denn?
RODRIGO
Sein Gedicht; er will sie zuerst auf die Folter spannen.
SCHIGOLCH
den Studenten fixierend
Die Augen; die Augen!
RODRIGO
Die Augen, ja! Die haben sie seit acht Tagen um ihren Schlaf gebracht.
SCHIGOLCH
Wir sind erledigt!
DER GYMNASIAST
Wieso erledigt?
RODRIGO
Wir beide sind erledigt.
Mit Schigolch anstossend
Zum Wohl, Gevatter Tod!
SCHIGOLCH
Zum Wohl, Springfritze!
LULU
von links, in eleganter Balltoilette, weit decolletiert, mit Blumen vor der Brust
Aber Kinder, wir erwarten Besuch!
DER GYMNASIAST
hat sich erhoben
LULU
sich auf die Armlehne seines Sessels setzend
Sie sind in eine nette Gesellschaft geraten.
SCHIGOLCH
Was sind das für Blumen?
LULU
Orchideen!
Sich mit der Brust über den Gymnasiasten neigend
Riechen Sie!
SCHIGOLCH und RODRIGO
gleichzeitig
Sie erwarten wohl den Prinzen?
LULU
Gott bewahre!
erhebt sich
DER GYMNASIAST
Einen Prinzen?
SCHIGOLCH und RODRIGO
gleichzeitig
Also wieder wer andrer?
LULU
Der Prinz ist verreist.
Eilt - vor sich hinsummend - die Treppe hinauf und tritt in die Galerie ein.
DER GYMNASIAST
Was für ein Prinz?
RODRIGO
Er hat sie nämlich ursprünglich heiraten wollen.
SCHIGOLCH
Ich habe sie ursprünglich auch heiraten wollen.
RODRIGO
Du hast sie ursprünglich heiraten wollen?
SCHIGOLCH
Hast Du sie nicht auch ursprünglich heiraten wollen?
RODRIGO
Jawohl, ich habe sie ursprünglich heiraten wollen.
SCHIGOLCH
Wer hat sie nicht ursprünglich heiraten wollen!
DER GYMNASIAST
ganz erstaunt
Was?! - Ihr habt sie ursprünglich heiraten wollen?!
RODRIGO
zu Schigolch
Sie ist also nicht Ihr Kind?
SCHIGOLCH
Fällt ihr nicht ein!
DER GYMNASIAST
ebenso
Was heisst denn das "Ihr Kind"?
RODRIGO
Wie heisst denn ihr Vater?
SCHIGOLCH
Sie hat nie einen gehabt!
DER GYMNASIAST
Sie hat nie ei...
LULU
kommt wieder - vor sich hinsummend - von der Galerie herunter
Was habe ich nie gehabt?
ALLE DREI
Einen Vater!
LULU
Ja gewiss, ich bin ein Wunderkind. -
SCHIGOLCH
zu Lulu
Hast oben abgeschlossen?
LULU
zeigt den Schlüssel
Hier ist der Schlüssel.
SCHIGOLCH
Hättest ihn lieber stecken lassen.
LULU
Warum denn?
SCHIGOLCH
Damit man von aussen nicht aufschliessen kann.
RODRIGO
Ist er denn nicht auf der Börse?
LULU
O doch, aber er leidet an Verfolgungswahn!
RODRIGO
Ich nehme ihn auf die Füsse und - jupp -, dass er an der Decke kleben bleibt!
LULU
Sie jagt er mit einem Seitenblick durch ein Mausloch!
RODRIGO
Was jagt er? Wen jagt er? Seh'n Sie sich bitte den Biceps an!
LULU
Zeigen Sie.
RODRIGO
sich auf den Arm schlagend
Granit! Schmiedeeisen! Ein Amboss!!
LULU
befühlt abwechselnd ihren und Rodrigos Oberarm
Wenn Sie nur nicht so lange Ohren hätten...
DER KAMMERDIENER
durch die Mitte eintretend
Herr Doktor Schön.
RODRIGO
aufspringend
Der Lumpenkerl.
Rast durchs Zimmer und versteckt sich rechts vorne hinter der Gardine.
SCHIGOLCH
zu Lulu
Gib mir den Schlüssel her!
LULU
gibt Schigolch den Schlüssel, ohne die Ruhe zu verlieren
DER GYMNASIAST
gleitet vom Sessel unter den Tisch und zieht die Decke vor.
SCHIGOLCH
übernimmt den Schlüssel von Lulu und setzt sich langsam in Bewegung, den Weg über die Treppe nehmend
LULU
zum Diener
Ich lasse bitten.
DER GYMNASIAST
unter dem Tisch bervorblickend
Er bleibt hoffentlich nicht;
dann sind wir allein...
LULU
berührt den Gymnasiasten mit der Fusspitze und setzt sich, in Erwartung des Besuches, zurecht
DER GYMNASIAST
verschwindet wieder
DER KAMMERDIENER
lässt AIwa eintreten, dann ab
ALWA
im Smoking
Die Matinée wird, wie ich mir denke, bei elektrischem Licht stattfinden. Ich habe...
Schigolch bemerkend, der sich noch immer die Treppe hinaufschleppt
Was ist denn das?
LULU
Ein alter Freund Deines Vaters.
ALWA
Mir völlig unbekannt.
LULU
Sie waren im Kriege zusammen. Es geht ihm schlecht.
ALWA
Ist denn mein Vater hier?
LULU
Er hat ein Glas mit ihm getrunken! Er musste auf die Börse.
Da Alwa Schigolch mit dem Blick verfolgt
Wie findest Du mich?
SCHIGOLCH
über die Galerie ab
ALWA
sich ihr zuwendend
Sollte ich Dir das nicht lieber verschweigen?
LULU
Ich meine ja nur das Kleid.
ALWA
Deine Schneiderin kennt Dich offenbar besser, als ich - mir erlauben darf, Dich zu kennen.
LULU
Als ich mich im Spiegel sah, hätte ich ein Mann sein wollen.., mein Mann!
ALWA
sie mit scheuem Wohlgefallen betrachtend
Du scheinst Deinen Mann um das Glück zu beneiden, das Du ihm bietest.
DER KAMMERDIENER
durch die Mitte mit Service, deckt den Tisch und legt zwei Kuverts auf; Flasche Pommery, Hors d'Oeuvres
ALWA
zum Diener
Was haben Sie denn?
LULU
Nicht!
DER KAMMERDIENER
Herr Doktor...?
ALWA
Er erscheint mir heute so weinerlich.
LULU
zu Alwa
Nicht!!
DER KAMMERDIENER
durch die Zähne
Man ist auch nur ein Mensch! -
ab